Home Office Erkenntnis 5: Lotterleben
Home Office Erkenntnis 5: Lotterleben
Man muss ja feststellen, dass der Gesamtsituation eine gewisse Seltsamkeit innewohnt, gibt man zu bedenken, dass wohl kaum jemand im Kollegium dieser Tage einen Arbeitsweg von mehr als 15 Metern hat. Wer ein weitläufigeres Refugium sein Eigen nennt, der leidet unter dem Einsitzen ja ohnehin nur in spärlicherem Maße, bekommt er doch auch dieser Tage genug Auslauf.
Die unter normalen Umständen zurückgelegten Meter jedweder Größenordnung auf dem Weg ins bis auf weiteres entbehrte Büro, nutzt der Arbeitsnehmer ja sonst gerne zur geistigen Zerstreuung und der Pflege der eigenen Misanthropie. In deutschen Nahverkehrsmitteln findet ja allmorgen- und -abendlich ein Schaulaufen von zweierlei Dingen bzw. Umständen statt:
- Das Ausführen der heißesten, schönsten und teuersten Produkte rund um das Thema Noise Cancelling, die die Audiobranche zu bieten hat. Da wird sich noch der letzte Groschen vom Munde abgespart, um möglichst noch das muxmäuschenstillste Geräuch der Mit-Nahverkehrenden ausblenden zu können. Ob es irgendwann auch Olfaktorie-Cancelling-Nasenwärmer geben wird? Obwohl… da helfen auch Ohrenstöpsel im Riechkolben, stehen den Kopfhörern aber erscheinungsbildlich ein klein wenig nach. Dieser Tage wären ja darüber hinaus antivirale Ganzkörperanzüge hoch im Kurs! Die wiederum helfen aber weder gegen anderer Leute Geräusche noch Gerüche. Und alles zusammen anzuziehen sieht dann doch wieder zu sehr nach Apokalypse aus… oder Breaking Bad… hätte aber auch einen Vorteil: Nach dem Aussteigen aus dem Bus bräuchte man sich um die per pedes zurückzulegende letzte Meile zum Zielort keine Gedanken mehr zu machen. Entweder wurde man im Bus von einem Lynchmob frisiert oder man wird beim Aussteigen von freundlichen Pflegern empfangen, die einen direkt unterhaken und mitnehmen. Wir schweifen ab! Wieder einmal!
- Fuck, was war noch zweitens? Das passiert mir in letzter Zeit häufiger. Dieses Abgeschweife entwickelt sich zusehends zum Hemmschuh. Ach ja… wie viele Teilnehmer der Pendlerkarawane werden wohl alltäglich, ihres bloßen Daseins wegen, Opfer von Todesblicken? Einfach weil sie nerven! Und ich als Langschläfer kann aus eigener Erfahrung sagen: Morgens nervt jeder! Hat das Homeoffice für beide Seiten doch also auch wieder was Gutes: Ich muss morgens niemanden doof finden und die anderen werden nicht doof gefunden! Eine Win-Win-Situation! Ob sich feststellen ließe, wann die Deutschen eine kürzere Zündschnur haben? Auf dem Weg zur oder von der Arbeit? Morgens ist man ja vielleicht noch etwas schlafgnädig, abends dafür aber dermaßen ermattet, dass für böse Blicke keine Kraft mehr ist. Schreit nach einem groß angelegten Feldversuch, sobald die Öffis wieder voll sind. Ist ja sonst nicht repräsentativ!
Eigentlich wollte ich aber auf etwas völlig anderes hinaus: Mal ganz abgesehen von den Millionen in vergangenen Jahren angeschafften Fitnesstrackern, die in Zeiten kollektiver Kasernierung ein trauriges Schattendasein als genauso seltsam anmutende wie nutzlose Armbanduhren fristen, würde mich wirklich brennend interessieren, wie sich die Morgenrituale meiner Kollegen in der letzten Wochen verändert haben: Einige weiterhin Überambitionierte treiben immer noch Frühsport, andere nutzen die Gunst der Stunde und holen lange aufgeschobenen Schlaf nach, wiederum andere duschen, ziehen sich komplett an, gehen die Treppe runter, fahren mit dem Rad eine Runde um den Block (ganz wagemutige nehmen vielleicht sogar den Bus!) und gehen dann dasselbe Treppenhaus wieder hoch an ihren heimischen Schreibtisch, um auf Teufel komm raus die angestammte Regelmäßigkeit nicht durcheinander zu bringen.
Bei mir persönlich hat die anfängliche Begeisterung für frühsportliche Ertüchtigung schon nach einem Tag ein jähes Ende gefunden und ich muss gestehen, dass sich seitdem eine gewisse Verlotterung eingestellt hat. Zwar habe ich mich heute Morgen rasiert und der anfängliche infantile Spaß rund um Videokonferenzen ohne Hose hatte sich dann auch irgendwann abgenutzt; die mir selber auferlegte Strenge, mich stets adrett anzukleiden, um mir selber eine gewisse Straffheit vorzugaukeln, ist mittlerweile auch verglommen und ich habe mich mit mir selber in einem zäh ausgehandelten Vergleich darauf geeinigt, dass eine Jogginghose ziemlich genau die Mitte trifft. Das Vogelnest auf meinem Kopf hingegen, das sich früher unter Zuhilfenahme diverser Produkte als Frisur auszugeben versuchte, ist mittlerweile vollends außer Kontrolle geraten, und hat sich angemeldet bei einem Lookalike-Contest für aufgeplatze Sofa-Ecken.
Hatte ich zu Beginn unserer Reise noch von hektischen Läufen ins Badezimmer berichtet, um die Haartracht zu richten, haben sich auch die zugeschalteten Kommunikationspartner mittlerweile an den Anblick gewöhnt. Die blöden Sprüche über geschlossene Friseursalons ebben langsam ab. Vorhin wurde stattdessen anerkennend festgestellt, dass ich einen Pullover trüge und nicht nur ein schlabberiges T-Shirt. Das hat wiederum hat mich dann doch hart getroffen, war ich doch der festen Überzeugung gewesen, dass ich zumindest während der ersten Homeoffice-Woche das aufkeimende Lotterleben noch gekonnt zu kaschieren im Stande gewesen war. Sogar Schlips und Kragen waren im Spiel… OK, dafür keine Hose, aber das wusste mein Kollege ja nicht. Hoffe ich zumindest. Jedenfall ist dann nun also alles egal! Ist der Ruf erst uriniert und so.
Hatte dieser Podcast die Kerbe bereitet, in die der Rest meiner Vonstöße noch einzuschlagen gewusst hätte, so nimmt die textile und frisierte Vertotterung nun Anlauf und schlägt stattdessen, vom heimischen Schreibtisch aus, dem Fass die Zähne aus. Oder den Boden! Was auch immer das heißen soll. Bis bald!